Der Epistemizid an den Palästinenser:innen: Israel zerstört Säulen des Wissens

Am 6. November 2023 zerstörte ein israelischer Luftangriff die Al-Azhar-Universität in Gaza, eine der größten Bildungseinrichtungen in den besetzten Gebieten. Dies war bei weitem nicht die einzige Universität, die während Israels jüngster Eskalation der ethnischen Säuberung im Gazastreifen und in ganz Palästina angegriffen wurde. Ein kurzes Video, das vom palästinensischen Ministerium für Bildung und wissenschaftliche Forschung am selben Tag wie der Angriff veröffentlicht wurde, wies darauf hin, dass insgesamt neun Universitätsgebäude (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Videos) im Gazastreifen und zwei im Westjordanland entweder "vollständig oder teilweise beschädigt" worden waren. Dem Video zufolge waren zu diesem Zeitpunkt mindestens 227.335 palästinensische Student:innen, darunter 555 Palästinenser:innen im Gazastreifen mit Auslandsstipendien, in ihrer Hochschulausbildung stark beeinträchtigt.

In den vergangenen Wochen haben sich Israels Angriffe auf palästinensische Schulen und Universitäten weiter verschärft. Am 18. Januar zerstörte Israel die Al-Israa-Universität mit 315 Minen - sie war die letzte Universität, die noch stand. Jede Universität im Gazastreifen wurde ganz oder teilweise zerstört, ebenso wie über 350 Schulen, Bildungseinrichtungen und öffentliche Bibliotheken während der andauernden völkermörderischen Kampagne.

Vor diesem Hintergrund kann die Bombardierung von Universitätsgebäuden in Gaza nicht nur als Angriff auf Gebäude verstanden werden, sondern auch als Angriff auf Archive, Studierenden- und Mitarbeiter:innenakten und die intellektuelle Arbeit der gesamten Universitätsgemeinschaft. Der Angriff auf die Al-Israa-Universität umfasste auch die Zerstörung eines nahe gelegenen Museums - ein eindeutiger Versuch des israelischen Militärs, die Beweise für die Plünderung der über dreitausend seltenen Artefakte, die sich darin befanden, zu vertuschen und zu beseitigen. Angriffe, bei denen Universitäten wie Al-Azhar und Al-Israa ausgelöscht werden, sind gleichbedeutend mit der Auslöschung der Leistungen palästinensischer Wissensproduzent:innen und tragen zu Israels fortgesetztem Epistemizid am palästinensischen Volk bei - ein Prozess, der mit einem Völkermord im Schnellverfahren verflochten ist.

Epistemizid kann im weitesten Sinne als die Zerstörung von Wissenssystemen und des von ihnen erzeugten Wissens definiert werden. Der lateinamerikanische Soziologe Ramón Grosfoguel erklärt, wie der Epistemizid eine entscheidende Rolle bei der Kolonisierung der übrigen Welt durch Europa spielte, einschließlich der Kolonisierung Amerikas durch Siedler:innen. Er verlieh der europäischen Philosophie ein "epistemisches Privileg", das es ihr ermöglichte, zur "neuen Grundlage des Wissens in der modernen/kolonialen Welt" zu werden.

Mit anderen Worten: Es wurde eine Welt geschaffen, in der nur das von europäischen Kolonist:innen und Siedler:innen produzierte Wissen als legitim angesehen wurde, während die kolonisierten Gesellschaften gezwungen waren, neue Systeme von Grund auf zu konstruieren - die oft die Systeme ihrer Kolonisator:innen widerspiegelten -, weil ihre eigenen Systeme zerstört worden waren. Die strukturellen Bedingungen der Wissensproduktion, die die Mechanismen ihrer Kolonialisierung erleichterten, schränkten folglich auch ihre Befreiung ein.

Die israelischen Bemühungen, die palästinensische Wissensproduktion zu diskreditieren und zu sabotieren, sowie die buchstäblichen und materiellen Angriffe auf palästinensische Bildungseinrichtungen und ihre jeweiligen Gemeinschaften sind ein Beweis dafür.

 

Das britische Mandat und die Hebräische Universität

Ein frühes Beispiel für Epistemizid in Palästina geht auf die Versuche der britischen Mandatsmacht zurück, die Entwicklung eines palästinensischen Hochschulsystems zu verhindern und gleichzeitig die Einrichtung zionistischer jüdischer Universitäten zu ermöglichen. Die Hebräische Universität von Jerusalem, die 1925 als öffentliche Universität gegründet wurde, ist das bemerkenswerteste Beispiel dafür. Als Reaktion auf das Fehlen einer vergleichbaren arabisch-palästinensischen Einrichtung argumentiert der bekannte Historiker Ilan Pappé, dass das Scheitern der Eröffnung einer arabischen Universität in Jerusalem auf eine Kombination aus britischem Kolonialismus, zionistischer Lobbyarbeit, antiarabischem Rassismus und einer generellen Unterschätzung des Umfangs und der Ambitionen des zionistischen Siedlerkolonialprojekts sowohl durch britische Beamt:innen als auch durch einige palästinensische Führer:innen zurückgeführt werden kann.

Darüber hinaus, so Pappé, gewährte das britische Mandat den zionistischen Institutionen ein Maß an Autonomie, das es ihnen ermöglichte, sich als Teil einer unabhängigen Infrastruktur für einen Staat im Staat zu etablieren", wodurch sie zur Grundlage des zukünftigen israelischen Staates werden konnten. Gleichzeitig beschreibt er, dass das Mandat das palästinensische Bildungswesen in dem Versuch, es unpolitisch und unter der Kontrolle der britischen Kolonialbeamt:innen zu halten, bis ins Kleinste kontrollierte. Wie Pappé erklärt, betrachteten die Briten "die Palästinenser als ein weiteres kolonisiertes Volk, das unterdrückt werden musste, während sie die zionistischen Siedler als Mitkolonialisten betrachteten". Eine palästinensische Universität, so Pappé, "hätte das antikoloniale Narrativ gestärkt und dazu beigetragen, dem Projekt der Hebräischen Universität entgegenzuwirken, die das wissenschaftliche Gerüst für die zionistische Ideologie lieferte". In der Praxis legte diese koloniale Sabotage der palästinensischen Versuche, Wissenssysteme aufzubauen, den Grundstein für den israelischen Epistemizid.

 

Die Nakba und die mündliche Überlieferung

Nur-eldeen Masalha beschreibt, dass die Nakba zur Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft geführt hat, und dazu gehört auch ihr Wissenssystem. Es versteht sich von selbst, dass die Enteignung palästinensischen Landes und Ressourcen sowie der neue Status der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung als Exilanten und Flüchtlinge die Versuche, palästinensische Systeme der Wissensproduktion wiederherzustellen, vor große Herausforderungen stellten. Es überrascht daher nicht, dass mündliche Überlieferungen und Erinnerungsberichte über die Erfahrungen der Nakba-überlebenden, in Masalhas Worten "von zentraler Bedeutung für die palästinensische Geschichte und die palästinensische Gesellschaft von heute" sind.

Palästinensische mündliche Überlieferungen werden jedoch routinemäßig von der israelischen Regierung, ihren Wissensinstitutionen und denjenigen, die in diesen Institutionen tätig sind, diskreditiert und delegitimiert. Wie die Tantura-Affäre vor mehr als zwei Jahrzehnten gezeigt hat, können selbst Versuche israelischer Forscher:innen, Wissen über die Geschichte Palästinas zu schaffen - insbesondere über palästinensische Dörfer - indem sie palästinensische Quellen und Erinnerungsberichte (in diesem Fall ebenso viele israelische) verwenden, als illegitim abgetan werden. Die Arbeit von Teddy Katz, der Mann im Zentrum der Affäre, gilt zwar inzwischen, dank der Veröffentlichung jener Geständnisse der Täter des Tantura-Massakers, als Teil eines Dokumentarfilms von 2022, als bestätigt, dennoch bleiben die Berichte der palästinensischen Überlebenden des Massakers außen vor.

Im Gegensatz zu Katz gibt es jedoch zahllose palästinensische Wissensproduzent:innen, deren Arbeit noch nicht in ähnlicher Weise gewürdigt wurde und es zu ihren Lebzeiten vielleicht auch nie wird. 2019 richtete das israelische Verteidigungsministerium eine Abteilung namens Malmab ein, deren Aufgabe es ist, zuvor freigegebenes Archivmaterial, das sich unter anderem auf die Nakba bezieht, zu verbergen und wegzuschließen. Der frühere Malmab-Leiter Yehiel Horev erklärte dies mit der Möglichkeit, dass solche Materialien "Unruhe" unter den Palästinenser:innen auslösen könnten. In Verbindung mit der systematischen Diskreditierung palästinensischer mündlicher Überlieferungen wird die palästinensische Wissensproduktion durch das Wegschließen israelischer schriftlicher Quellen durch das Malmab weiter sabotiert.

 

Epistemizid und palästinensische Institutionen heute

Eine weitere Facette des israelischen Epistemizids an den Palästinenser:innen sind die Eingriffe der israelischen Besatzung in den Betrieb und die akademische Freiheit der einheimischen palästinensischen Wissenseinrichtungen.

Neben dem üblichen Muster der israelischen Grenzkontrollen die exilierten palästinensischen Forscher:innen routinemäßig den Zugang zu ihrem Heimatland zu verweigern, so dass Forschung, die Teilnahme an Konferenzen, oder sogar der Beitritt zu Lehrkörpern palästinensischer Einrichtungen nahezu unmöglich gemacht werden, erweiterte Israel 2022 die Befugnisse der sog. ‚Behörde für die Koordinierung von Regierungsaktivitäten in den Gebieten‘ (COGAT), um die Bedingungen festzulegen, unter denen ausländische Wissenschaftler:innen, einschließlich palästinensische Staatsbürger:innen ausländischer Länder, ihre Arbeit im Westjordanland durchführen dürfen.

Dies ist nicht nur ein klarer Angriff auf die akademische Freiheit der Palästinenser:innen, sondern schränkt auch den Bereich der vermeintlich "akzeptablen Wissensproduktion" ein, indem es das epistemische Privileg des israelischen Staates gegenüber dem der Palästinenser:innen aufrechterhält. Die Fähigkeit des COGAT, auf derart patrimoniale und bevormundende Weise in die palästinensische Wissensproduktion einzugreifen - bis zu dem Punkt, an dem er entscheiden soll, was als "notwendiger Bereich" gilt, und einer palästinensischen Institution erlaubt eine:n ausländische:n Staatsbürger:in einzustellen - delegitimiert die Palästinenser:innen nicht nur als Wissensproduzent:innen, sondern auch als Herrscher:innen über ihre eigene Wissensproduktion. Dies kommt einer Auslöschung der palästinensischen epistemischen Imperative gleich, die das Verhältnis zwischen Wissen und Existenz sowohl in der Welt als auch in Palästina umreißen.

 

Wissen und Völkermord

Nicht nur Israel und seine Institutionen haben dazu beigetragen, die palästinensische Wissensproduktion zum Schweigen zu bringen, anzugreifen, zu diskreditieren und zu untergraben. Mächtige Institutionen innerhalb der "Blancosphäre" (im Volksmund auch als "der Westen" bezeichnet), darunter Regierungen, Nachrichtenorganisationen und akademische Einrichtungen, tragen ebenfalls dazu bei, den Wissensmord an den Palästinenser:innen weiter zu ermöglichen.

Ein dreistes Beispiel dafür ist US-Präsident Joe Biden, der einseitig ein Urteil darüber fällte, wer für den Angriff auf das Al-Ahli-Baptistenkrankenhaus in Gaza verantwortlich war, indem er Israels Unschuldsbehauptungen unkritisch akzeptierte, während er die Berichte palästinensischer Augenzeugen völlig abtat. Eine ähnliche Rolle spielen Verweise der BBC und vieler anderer Mainstream-Medienhäuser auf das Gesundheitsministerium in Gaza als ein "von der Hamas geführtes Ministerium" - ein Versuch, dessen Berichterstattung über die Opfer zu delegitimieren.

Nicht alle Beispiele sind jedoch so dreist. Es hat sich wenig geändert, seit Edward Said nach der israelischen Invasion im Libanon argumentierte, dass den Palästinenser:innen die "Erlaubnis zum Erzählen" verweigert wurde. Ihm zufolge wird durch die Bevorzugung einer "westlichen Meistererzählung, die die jüdische Entfremdung und Erlösung hervorhebt", das palästinensische Verständnis der Realität ausgelöscht, in der der Kampf um die Befreiung noch lange nicht beendet ist. In diesem Sinne spielt das epistemische Privileg, das dem israelischen Staat und seinen Institutionen durch den Epistemizid an den Palästinenser:innen eingeräumt wird, eine Rolle bei seiner Legitimierung in den Augen derjenigen, die mächtiger sind als er.

Deshalb ist es für den Widerstand gegen den Völkermord an den Palästinenser:innen im Gazastreifen und im gesamten historischen Palästina absolut unerlässlich, den Epistemizid in all seinen Formen zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Rana Barakat betont, wie wichtig es ist, palästinensisch indigene Souveränität, Widerstand und Durchhaltevermögen in den Mittelpunkt der Analyse des kolonialen Projekts der israelischen Siedler:innen zu stellen. Es ist wichtig, hier hinzuzufügen, dass nicht nur die Anerkennung der Palästinenser:innen als Erzähler:innen der Geschichte jenen Versuchen des israelischen Staates sein epistemisches Privileg durch eine Eskalation seines Epistemizids zu festigen, entgegenwirkt, sondern auch die Anerkennung der Palästinenser:innen als Wissensschaffenden im Kontext des historischen Palästinas und der Erfahrungen der palästinensischen Bevölkerung in der ganzen Welt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Israels Versuche, das palästinensische Wissen und die Systeme der Wissensproduktion zu zerstören, ein wesentlicher Bestandteil seines langwierigen Völkermords am palästinensischen Volk sind. Doch wie mein verstorbener Großvater, der 1948 aus seinem Haus in Jerusalem vertrieben wurde, zu mir sagte: "Du wirst immer deinen Reichtum schützen, aber dein Wissen wird dich immer schützen."

ÜBER DEN AUTOR:

Abdulla Moaswes ist Schriftsteller, Forscher, Übersetzer und Pädagoge. Seine aktuellen akademischen Forschungen konzentrieren sich auf die Globalisierung der kolonialen Siedlerlogik. Er hat bereits über die Politik der Nahrung geschrieben, mit besonderem Bezug auf Chai Karak und die soziopolitische Rolle von Internet-Memes in Süd- und Westasien. Darüber hinaus schreibt Abdulla auch Gedichte und spekulative Belletristik.

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