Jenin und ihr Pferd: Die Kraft von Symbolen

Inmitten der Grausamkeiten des völkermörderischen Krieges des israelischen Staates gegen den belagerten Gazastreifen geht auch die militärische Gewalt der Siedler:innen im Westjordanland unvermindert weiter. Im Schatten von Gaza ist die Dunkelheit der Nacht besonders herausfordernd: Wir leben unter der Besatzung eines brutalen Militärs, das uns neue Arten von Beschäftigung (im Original: „Occupations“) gebracht hat: einschließlich der Verfolgung der Nachrichten über Angriffe auf Städte und insbesondere Flüchtlingslager im gesamten Westjordanland.
Mit dem Tageslicht kommen die Details der Zerstörung ans Licht. Schlaf ist eines von vielen stillen Opfern dieses Krieges. Im ersten Monat des Jahres 2024 war das Ausmaß der Zerstörung und der Gewalt in Jenin eine Warnung vor dem, was im Westjordanland noch kommen kann. Im Rahmen einer weiteren Invasion zerstörte ein Fahrzeug der israelischen Armee am 24. Januar das Nusib al-Schuhada', das Märtyrer-Denkmal, auf dem Diwar al-Kino, dem Kinoplatz von Jenin – ein weiteres verdächtiges Opfer in diesem Krieg. Angesichts all dieser mutwilligen Zerstörungen ist es seltsam, warum das Militär weiterhin Symbole wie das auf dem Kinoplatz angreift. Angesichts der vielen Menschen, die in den letzten Monaten ums Leben gekommen sind, könnte man diese Angriffe auf Symbole leicht übersehen. Doch diese Art von Angriffen ist in diesem Krieg fast schon alltäglich. Ende Oktober 2023 drang die israelische Armee in die Stadt Jenin und das Flüchtlingslager im nördlichen Westjordanland ein und nahm ein anderes Symbol ins Visier: das berühmte Pferd von Jenin.

Lange vor Oktober 2023 hat das Flüchtlingslager in Jenin, wie andere Flüchtlingslager im gesamten besetzten Westjordanland (einschließlich derjenigen in Jerusalem), ein noch nie dagewesenes Ausmaß an militärischer Gewalt erlebt. Vor dem Hintergrund des Versuchs des Siedlermilitärs, ein Volk vollständig auszulöschen, ist Jenin einmal mehr zu einem Epizentrum der Siedlergewalt im Westjordanland geworden. Diese israelischen Militärangriffe, bei denen die Besatzungstruppen einmarschieren, zerstören, verhaften, töten und sich dann zurückziehen, sind in den letzten Jahren zu einer gängigen Praxis geworden. Die Gewalt, die Zerstörung und die schiere Ungeheuerlichkeit der Angriffe im gesamten besetzten Westjordanland haben jedoch seit Oktober zugenommen. Fotoreportagen und Nachrichtenberichte, die die Zerstörung von den südlichen Hügeln bis zu den nördlichen Tälern des besetzten Westjordanlandes zeigen, sind nur ein Anfang der Geschichte von 2023/2024. Als Dozent:innen an der Birzeit-Universität haben wir versucht, unsere kollektive Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie wir die Geschichte unseres Überlebens erzählen können - mit all den verschiedenen Arten und Folgen der Gewalt, die sich über die gesamte Geografie Palästinas erstrecken. Mitten in dieser Arbeit habe ich mich dabei ertappt, wie ich über die Geschichte des Pferdes von Jenin nachdachte.

Am 29. Oktober griff die israelische Armee Jenin, das Flüchtlingslager und ihr Pferd an. Neben den Menschen und der Infrastruktur richtete das Siedlermilitär seine Waffen der Zerstörung auch auf das berühmte fünf Meter hohe Bauwerk, al-Hisan von Jenin (Pferd von Jenin). Das Pferd wurde am Eingang des Lagers errichtet und bestand aus den Überresten der Zerstörung der Invasion des Lagers im Jahr 2022 während der al-Aqsa-Intifiada. Es wurde in einem Akt des Überlebens neu erschaffen, um sowohl an die Schlacht zu erinnern, als auch das Leben wieder zu feiern. Thomas Kilpper, ein deutscher Künstler, entwarf und baute das Pferd zusammen mit Kindern aus dem Lager 2003 als öffentliches Denkmal, wobei er die zerstörte Infrastruktur des Lagers als Körper und Grundlage für den Entwurf nutzte. Die aktive Beteiligung der Menschen des Lagers, insbesondere der Kinder mit künstlerischen Visionen und Träumen, ist der Kern des Außergewöhnlichen von Al-Hisan. Es war von Geburt an ein Teil des Lagers und ist es bis heute geblieben.

Al-hisan ist in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur zu einem Teil der Landschaft geworden, sondern auch zu einem Mittel, um das Land zu markieren. Dennoch ist das Pferd nur ein Symbol, und zwar eines der jüngeren Geschichte, ein Symbol für eine Schlacht, die nicht wirklich zu Ende ging, und ein Symbol, das ein grenzenloses Zeitgefühl in unser Leben bringt. Vielleicht ist das Pferd zu jung, um die Art von historischer Gefahr zu markieren, die die palästinensische Zeit von der Zeit der Siedler:innen unterscheidet? Oder bringt die relative Jugend des symbolischen Pferdes die Sache nicht wirklich auf den Punkt? Wie Maya Mikdashie erklärt, "verschiebt die koloniale Zeit der Siedler methodisch die Wegweiser, das Territorium, das Subjekt der 'Krise', nach vorne. Je zeitlich begrenzter eine 'Krise' ist, desto konsolidierter und 'natürlicher' können die koloniale Macht der Siedler:innen und ihre 'Tatsachen vor Ort' erscheinen." Das Pferd widersetzt sich also vielleicht der Zeitlichkeit der Siedler:innen und ihrer Auferlegung einer Zeitlinie, indem es gewaltsam das Vorher und Nachher in unseren Landschaften markiert. Zusammengebaut aus Überresten von Objekten, die von der Siedlerarmee zerstört wurden, zeigt das Pferd sehr prominent das Metallstück eines zerstörten Krankenwagens mit der Aufschrift "Red Crescent Society". Dieses Metallstück erinnert an die gegenwärtigen Angriffe auf medizinisches Personal in ganz Palästina - Krankenwagen, die während eines weiteren Angriffs auf Jenin im Dezember 2023 gewaltsam daran gehindert wurden, die Verletzten zu transportieren. Vielleicht ist Kunst im Dienste der Re-/Konstitution von Erinnerung ein Mittel, um gegen die hegemoniale Macht der Zeitlichkeit der Siedler:innen anzugehen? Im Gegensatz zu anderen Wiederaufbauprojekten, die Städte, Dörfer und Lager einnahmen, war bzw. ist dieses Pferd ein Symbol für genau die Art von andauernder Gewalt, die noch nicht beendet ist und so kein Gedenkens oder einer Erinnerung bedarf. Bei ihrem Angriff auf Jenin griff die Siedlerarmee das Pferd nicht nur an, sondern sie "verhaftete" es auch - sie schleppte es weg, vielleicht um eine weitere künstlerische Umwandlung von zerstörten Dingen zu verhindern.

Warum ist das Pferd wichtig? Warum war es für die Siedlerarmee wichtig? Und noch wichtiger: Warum ist es ein Kommentar zur palästinensischen Zukunft? Die Gewalt und Zerstörung, die das Siedlermilitär in den letzten Monaten in Jenin anrichtete, ist ein Spiegelbild des unerbittlichen völkermörderischen Krieges gegen Gaza. Angesichts dieser unnachgiebigen Gewalt, die sich gegen alles und jeden in Gaza richtet, einschließlich kultureller Stätten, Moscheen und Universitäten, sollte es nicht überraschen, dass das israelische Militär auch dieses bedeutende Symbol des Lebens und Überlebens in Jenin angegriffen hat.

In diesem einen Akt, der inmitten zahlloser Akte der Siedlergewalt liegt, versuchte der Siedlerstaat, ein "Symbol der Zerstörung" zu zerstören, weil es auch ein "Symbol des Überlebens" ist, und schleppte es dann in eine unbekannte Zukunft fort. Dieser Akt offenbarte mehr, als vielleicht beabsichtigt war. Erstens zeigte er, wie heimtückisch und bösartig die Gewalt der Siedler war und ist, denn der Zorn und das Ausmaß der völkermörderischen Gewalt der letzten Monate ist historisch, aber auch beispiellos und scheint kein Ende zu nehmen. Doch noch wichtiger, zeigt diese einfache Geschichte eines Pferdes aus zerstörten Dingen, dass die Zerstörung in Palästina nie das Ende der Geschichte ist.

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