Für Feministinnen ist Schweigen zu Gaza keine Option mehr

Es ist eine feministische Verantwortung, einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza zu fordern.

Maryam Aldossari

Forscherin zu Geschlechterungleichheit im Nahen Osten

Veröffentlicht am 4. Januar 2024

Wie viele andere Menschen auf der Welt, bin ich emotional ausgelaugt. Ich verbringe die meiste Zeit damit, die Nachrichten über eine Tragödie nach der anderen zu lesen und mich nach einem dauerhaften Ende des unerbittlichen Krieges in Gaza zu sehnen. Ich bin auch körperlich erschöpft. Meine Wochenenden verbringe ich damit, zu demonstrieren, angetrieben von der verzweifelten Hoffnung, dass unsere kollektive Stimme unsere Politiker:innen vielleicht dazu bringen könnte, endlich zu einem dauerhaften Waffenstillstand aufzurufen. Vorausgesetzt, es gehen genügend von uns konsequent auf die Straße und erheben ihre Stimme.

Aber über diese körperliche und emotionale Erschöpfung hinaus, bin ich auch von einer tiefen Wut, einer tiefen Enttäuschung gegenüber den Feministinnen in meinem Land, dem Vereinigten Königreich, und darüber hinaus irritiert. Feministinnen, die für das Leid der Frauen in Gaza völlig desinteressiert scheinen.

Jeden Tag stoße ich auf Meinungsartikel und Social-Media-Posts von Feministinnen, die zu Recht das ungeheuerliche Vorgehen der Hamas gegenüber israelischen Frauen während ihres Angriffs am 7. Oktober und ihre Behandlung weiblicher Geiseln in der Folge verurteilen. Diese Argumente und Aussagen sind unbestreitbar stichhaltig und zweifellos notwendig. Solche schweren Verbrechen gegen Frauen und Mädchen, gegen irgendjemanden, sollten niemals ignoriert, entschuldigt oder vergessen werden.

Und doch schweigen genau diese Individuen, diese selbsternannten Feministinnen, auf befremdliche Weise über Israels ähnlich ungeheuerliche Aktionen gegen palästinensische Frauen.

Israels fast vollständige Belagerung und wahllose Bombardierung des Gazastreifens hat bereits Zehntausende von palästinensischen Frauen und Kindern getötet, verstümmelt und unter den Trümmern verschwinden lassen. Viele weitere wurden vertrieben und müssen den harten Winter ohne angemessene Unterkünfte und Vorräte überleben. Der fast vollständige Zusammenbruch des Gesundheitssystems, gepaart mit dem Mangel an Nahrung und sauberem Wasser, bedeutet, dass etwa 45.000 schwangere Frauen und 68.000 stillende Mütter in Gaza dem Risiko von Anämie, Blutungen und Tod ausgesetzt sind. Unterdessen sind Hunderte von palästinensischen Frauen und Kindern im besetzten Westjordanland immer noch inhaftiert, viele ohne Gerichtsverfahren. Sie versuchen, unter unerträglichen Bedingungen zu überleben.

Diese Katastrophe spielt sich vor den Augen ab, aber die Mehrheit der Feministinnen in Großbritannien und allgemein im Westen scheint nichts dazu zu sagen zu haben.

Warum werden die Geschichten palästinensischer Frauen ignoriert? Warum verdienen die Kämpfe palästinensischer Frauen und Kinder anscheinend nicht das gleiche Maß an Besorgnis? Zunehmend werde ich zu der Überzeugung verleitet, dass es sich dabei nicht nur um einen Mangel an Aufmerksamkeit handelt, sondern um vorsätzliche Blindheit – die Folge eines moralischen Kompasses, der irreparabel kaputt sein kann.

In den letzten drei Monaten habe ich mich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt. Ich vertiefte mich in zahlreiche "feministische" Texte von Autorinnen, die ich einst sehr schätzte, um zu versuchen, ihre Interpretation des Feminismus zu verstehen, und warum dieser, palästinensische Frauen nicht einzubeziehen scheint.

Allmählich wurde mir klar, dass ihre Art von Feminismus palästinensische Frauen nicht in erster Linie von Israel oder einer anderen äußeren Macht unterdrückt sieht, sondern von palästinensischen Männern. Für sie haben palästinensische Frauen wenig bis gar keine Handlungsmacht und sind ewige Opfer einer Gesellschaft, in der geschlechtsspezifische Gewalt tief verwurzelt ist. Darüber hinaus sind palästinensische Männer in ihren Augen ein Synonym für zutiefst patriarchalische, religiöse und sozial konservative Gruppen wie die Hamas, die dafür bekannt sind, Frauen zu missbrauchen und zu unterdrücken. Daher glauben diese "Feministinnen" Israels Behauptungen, dass sein Angriff auf Gaza dazu beitragen wird, palästinensische Frauen aus den Klauen der Hamas zu "befreien". Sie ignorieren den tatsächlichen, schweren Schaden, den der Krieg ihnen zugefügt hat.

Dieser Ansatz ist Teil eines beunruhigenden historischen Musters – einer Form des Feminismus, die von kolonialen und imperialen Vorurteilen durchdrungen ist. "Feministinnen" dieser Art unterstützten die US-Invasion in Afghanistan, weil sie angeblich darauf abzielte, "afghanische Frauen zu befreien". Andererseits würden sie nie auf die Idee kommen, für die gewaltsame "Befreiung" von z.B. jüdischen Frauen zu argumentieren, die in zutiefst patriarchalischen und religiösen Gemeinschaften in Israel leben.

Bei dieser Art von Feminismus sind Empathie und Empörung nicht mit universellen feministischen Grundsätzen und dem Wunsch verbunden, allen Frauen Handlungsfähigkeit und Macht zu geben, sondern mit persönlichen Identitäten und politischen Zugehörigkeiten. Dies führt zu einer Hierarchie der Besorgnis, in der einige feministische Kämpfe – und insbesondere jene gegen muslimische, braune Männer – Vorrang vor anderen haben. Dadurch wird ermöglicht, dass die Rhetorik der Frauenbefreiung vereinnahmt wird, um die Ziele der Mächtigen zu fördern - oft auf Kosten der Unterdrückten.

In diesem Zusammenhang stellt das westliche feministische Schweigen - über die Notwendigkeit eines Waffenstillstands in Gaza - nicht nur einen moralischen, sondern auch einen politischen Lapsus dar. Sie verewigt eine Art von Feminismus, die mit kolonialen und imperialen Machtstrukturen verflochten ist. Diese Art des Feminismus, der in der Vergangenheit unter dem Vorwand des Schutzes, Schaden angerichtet hat.

Dieses Schweigen ist sinnbildlich für einen modernen "kolonialen Feminismus", in dem die Rhetorik der "Befreiung der Frauen" tiefere Gewaltakte verbirgt. Sie rechtfertigt Invasionen und Besetzungen unter dem Deckmantel der Hilfe, indem sie palästinensische Frauen als bloße Opfer darstellt, die gerettet werden müssen. Währenddessen wird diesen palästinensischen Frauen gleichzeitig das Recht auf Widerstand verweigert. Letztlich dient die selektive Empathie westlicher Feministinnen dazu, Machtstrukturen zu verstärken, die den Kreislauf der Gewalt fortsetzen.

Unterdessen entschuldigen einige Feministinnen ihre Weigerung, einen Waffenstillstand zu fordern, mit dem Hinweis auf die komplexe Haltung der palästinensischen Gesellschaft zu LGBT-Rechten. Die Hamas sperre LGBT-Personen ein oder tue ihnen Schlimmeres an, sagen sie. Also solle der Krieg weitergehen, bis die Gruppe vollständig eliminiert sei.

Diese Logik übersieht jedoch ein entscheidendes Element, das im feministischen Diskurs oft angepriesen wird: Intersektionalität. Während die Herausforderungen, mit denen die LGBT-Gemeinschaft in Gaza unter der Herrschaft der Hamas konfrontiert ist, in der Tat beträchtlich sind, nutzt sie diese Herausforderungen als Vorwand, um sich nicht für einen sofortigen Waffenstillstand einzusetzen, um die größere humanitäre Krise zu umgehen. Ein solcher selektiver Ansatz ignoriert nicht nur die dringenden Bedürfnisse von Tausenden von Frauen und Kindern, die täglich Gewalt und Unterdrückung erleiden, sondern täuscht auch über einen besorgniserregenden Trend der selektiven Empathie hinweg. Darüber hinaus ignoriert dieser die Tatsache, dass Israels Krieg auch LGBT-Palästinenser:innen tötet und versehrt.

Die Verweigerung einen Waffenstillstand aufgrund der angenommenen Feindseligkeit der palästinensischen Gesellschaft und der Hamas gegenüber der LGBT-Gemeinschaft, zu unterstützen, untergräbt den Kerngrundsatz feministischer Solidarität: die Verpflichtung, alle Frauen und marginalisierten Gemeinschaften zu schützen und zu fördern, unabhängig von ihren soziopolitischen Umständen. Indem sie aus diesen Gründen die Unterstützung für einen Waffenstillstand zurückhalten, stellen diese Feministinnen unbeabsichtigt ideologische Reinheit über die dringende Notwendigkeit, weitere Verluste an Menschenleben und Leid zu stoppen. Echter feministischer Aktivismus sollte geopolitische Vorurteile überwinden, die Rechte und Würde aller Frauen und gefährdeten Gruppen wahren, unabhängig von ihrem Hintergrund oder der Komplexität ihres gesellschaftlichen Kontexts.

Abgesehen von denjenigen, die die Unterdrückung der Frauen durch die Hamas und die palästinensische Gesellschaft im weiteren Sinne, sowie die offensichtlichen Vorurteile gegenüber der LGBT-Gemeinschaft als Gründe dafür anführen, die Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand nicht zu unterstützen, gibt es auch Feministinnen, die zu diesem Thema schweigen, weil sie bei einem "komplexen" Thema "neutral" bleiben wollen. Die Haltung irritiert und macht mich noch wütender als alles andere..

Angesichts des überwältigenden Terrors kann es keine Neutralität geben.

Heute erleben palästinensische Frauen Schrecken, die die Grundwerte des Feminismus grundlegend in Frage stellen. Mütter begraben ihre Kinder mit bloßen Händen; Familien trauern um ihre verlorenen Häuser und zerstörten Leben, hungrig und unter einem Bombenregen.

Unter diesen Umständen ist Schweigen keine neutrale Haltung. Das heutige Schweigen ist eine passive Bestätigung der anhaltenden Tragödie. Wie viele Leben müssen noch zerstört werden, bevor diese vorsichtigen und politisch "neutralen" Feministinnen den Mut finden, einen Waffenstillstand zu fordern? Die steigende Zahl der Todesopfer ist nicht nur eine Zahlen, sondern steht für einzelne Menschenleben, für eine gestohlene Zukunft und für eine direkte Herausforderung der Grundsätze, die den Feminismus selbst untermauern.

Heute hat das, was ungesagt bleibt, genauso viel Bedeutung und Wirkung wie das, was gesagt wurde.

Zahlreiche prominente "feministische" Stimmen, die sich immer lautstark zu Gender, Sex und Gesellschaft äußern, schweigen immer noch auffallend zu den Kämpfen der palästinensischen Frauen. Während ihre Plattformen die Macht haben, kritische Themen ans Licht zu bringen, haben sie auch die subtile Macht, andere an den Rand zu drängen. Zu oft sehen wir, dass die Anliegen nicht-westlicher Frauen an den Rand gedrängt werden, weil diese hochkarätigen Aktivistinnen nicht bereit sind, über sie zu schreiben und zu sprechen.

Dieses selektive Schweigen stellt die Universalität feministischer Solidarität in Frage. Vor allem, wenn es von prominenten Feministinnen kommt, zu denen viele andere aufschauen, wird Schweigen zu einer Form der Komplizenschaft. Glauben Sie, dass Ihr Schweigen über die Tragödie der palästinensischen Frauen unbemerkt geblieben ist? Ich hasse es, es Ihnen zu sagen, aber Ihr Schweigen ist ohrenbetäubend laut und hat Ihrer Arbeit, in den Augen vieler, jede Glaubwürdigkeit genommen.

Wenn du zu den "Feministinnen" gehörst, die nicht über das Leiden der palästinensischen Frauen sprechen oder die Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza unterstützen, aus welchen Gründen auch immer, dann habe ich eine sehr einfache Forderung an dich. Schaue dir die Fotos an, die aus Gaza kommen. Du hast sie vielleicht vermieden, sie als bloße Propaganda abgetan – aber für eine Sekunde solltest du deine Vorurteile und klugen Ausreden hinter dir lassen und sie dir ansehen. Schau dir die Bilder von Müttern an, die die leblosen, blutverschmierten Körper ihrer Kinder wiegen. Schaue dir die Bilder von verwirrten Kleinkindern an, denen oft Gliedmaßen und Fleisch fehlen, die allein auf dem Boden des Krankenhauses liegen. Schau dir die Bilder von jungen Frauen an, die mit toten Augen versuchen, Fragmente aus ihrem Leben, ihren ermordeten Familien unter den Trümmern ihrer zerstörten Häuser zu sammeln. Schaue dir diese Bilder an, schaue sie dir wirklich an. Erkläre mir dann, warum du denkst, dass es nicht richtig ist, jetzt einen Waffenstillstand zu fordern. Und nachdem du diese Bilder gesehen hast, sie wirklich gesehen hast, willst du immer noch "neutral" bleiben, schweigen oder über "islamistische Unterdrückung" und "LGBT-Intoleranz" sprechen? Bezeichne dich nicht als Feministin. Weil du keine bist.

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die redaktionelle Haltung von Al Jazeera wider.

Übersetzt von: Safaa Mohajeri

Zurück
Zurück

Israel möchte Gazas Milliarden Dollar schweres Gasfeld in Besitz nehmen

Weiter
Weiter

Eine "Massenmordfabrik": Einblicke in Israels gezielte Bombardierung des Gazastreifens.