Vom “Spacio-zid" zum Genozid :
Der Krieg gegen Gaza und die westliche Gleichgültigkeit
Autor: Sari Hanafi .// Quelle: Institute of Palestine Studies
Datum der Veröffentlichung: 30.12.2023 // Übersetzt vom Englischen ins Deutsche von Palästina Spricht
Es kann schwierig sein nachzudenken, wenn der Klang von Raketen lauter ist als die Stimme der Vernunft
Ich bin Palästinenser und bin in einem Flüchtlingslager aufgewachsen. Ich lebe mit dem generationalen Trauma, das durch die israelischen Gräueltaten gegen meine Familie und mein Volk entstanden ist. Seit dem 7. Oktober haben Millionen, wie ich, sich gefragt, wie wir unsere soziale und moralische Verantwortung annehmen können, um den Krieg Israels gegen Gaza zu verstehen.
Einige haben die Geschichte der israelischen Gewalt in der Region genutzt, um Hamas zu entlasten, eine von Israel und den meisten westlichen Mächten als terroristische Organisation eingestufte Gruppierung, während andere argumentieren, dass es ungerecht sei, von den Palästinenser:innen - deren Leben selbst auf dem Spiel steht - ein ausgewogenes Moralempfinden zu verlangen. Aber vielleicht liegt die Zurückhaltung einiger von uns, moralische Urteile über Hamas Handlungen zu fällen - selbst wenn sie aus einer gewissen distanzierten Beobachterposition heraus falsch oder politisch verheerend erscheinen - darin begründet, dass wir nicht wissen können, wie wir handeln oder reagieren würden, wenn wir unter denselben schrecklichen Bedingungen in einem Konzentrationslager leben würden.
Meine Ansicht ist letztlich, dass jeder Angriff, der nicht zwischen Zivilist:innen und Kämpfer:innen unterscheidet, verurteilt werden muss. Dennoch verurteile ich sicherlich nicht das Recht der Kolonisierten, sich den Kolonisierenden durch gewaltsame Mittel zu widersetzen.
Eine vernünftige Analyse des fortlaufenden und beschleunigten Genozids am palästinensischen Volk kann nicht am 7. Oktober beginnen. Die anfängliche Offensive könnte als Gedenken an den Krieg vom 6. Oktober 1973 interpretiert werden, in dem arabische Armeen Israel überraschten. Sie geschah genau 30 Jahre nach der Unterzeichnung der Osloer Friedensabkommen im Jahr 1993 zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und dem israelischen Regime. Das anhaltende Erbe dieser Vereinbarung erklärt (zumindest teilweise), wie Israel seine Unterdrückung intensivierte und über aufeinanderfolgende Regierungen hinweg seinen Siedlerkolonialismus und die Auslöschung der Palästinenser:innen eskalierte und sein Apartheidregime verfestigte.
Der Friedensvertrag führte zur Gründung der Palästinensischen Nationalbehörde (PNA), die vorläufige Selbstverwaltung für fünf Jahre bieten sollte, während Verhandlungen die herausragenden Kernfragen des Konflikts lösen sollten. Drei Jahrzehnte später besteht die PNA noch immer, hat jedoch einen Großteil ihrer Legitimität verloren, mit 60 Prozent des Westjordanlands unter israelischer Kontrolle und dem Gazastreifen, der seit 16 Jahren unter Belagerung steht und nun von Auslöschung bedroht ist. Dies waren 30 Jahre täglicher Verletzungen des Völkerrechts durch die israelischen Besatzungstruppen, ihre bewaffneten Siedler:innen und ihre globalen Verbündeten.
Im Jahr 1998, als ich in Ramallah lebte, führte ich eine ausführliche Diskussion mit Ilan Halevi - einem lieben verstorbenen Freund und Berater des Außenministers Nabil Shaath - über das Fehlen eines bestimmten Punktes in den Osloer Abkommen bezüglich der Beendigung israelischer Siedlungspolitik in den besetzten palästinensischen Gebieten. Er bat mich, in der folgenden Woche mit ihm an einem Abendessen mit Shaath teilzunehmen. Ich ging mit gut vorbereiteter Kritik dorthin. Shaath gab zu, dass dieses Thema der Hauptgrund für das Stocken der Verhandlungen war. Aufgrund der Machtstruktur gäbe es keine Möglichkeit, dass Israelis dem Stopp des Siedlungsbaus zustimmen würden. Er betrachtete es als "großen Fehler". Er bemerkte, dass der vereinbarte Punkt in den Osloer Abkommen, "dass niemand die Geografie ohne die Zustimmung der anderen Partei ändern kann", so breit gefasst war, dass er in alle Richtungen interpretiert werden konnte. Tatsächlich hatten sich die armen palästinensischen Verhandlungsführer auf das Vertrauen in die internationale Gemeinschaft verlassen, Israel zu zwingen, den Bau seiner illegalen Siedlungen zu stoppen.
UN-Statistiken zeigen, dass zwischen den Jahren 2000 und 2007 die Anzahl der illegalen Siedler:innen im Westjordanland von 110.000 auf 450.000 verdreifacht wurde. Sie werden jetzt auf etwa 800.000 geschätzt. Darüber hinaus entnimmt Israel routinemäßig Wasser aus palästinensischen unterirdischen Wasserreserven für den Verbrauch der Siedler:innen und beraubt die Palästinenser:innen somit des Zugangs zu ihrem eigenen Wasser. Alle diese Siedlungen wurden auf zerstörten palästinensischen Dörfern und Städten, Friedhöfen oder landwirtschaftlichen Flächen errichtet.
Von “Spacio-zid” zum Genozid
Zwischen 1999 und 2004 lebte ich im besetzten Palästina während des Höhepunkts der Zweiten Intifada. Zu dieser Zeit entwickelte ich das Konzept des "Spacio-zids", da mich sowohl die Frage der palästinensischen Flüchtlinge als auch die politische Soziologie des Konflikts interessierte.
Das israelische koloniale Siedlungsprojekt war schon lange "spaciozidal" (im Gegensatz zum Genozid), da es Land/Raum ins Visier nimmt. Durch die Ausrichtung auf das Land, auf dem das palästinensische Volk lebt, erzwingt diese Politik und eine Umsiedlung der palästinensischen Bevölkerung und macht sie unausweichlich.
Spacio-zid ist eine gezielte Ideologie mit einer einheitlichen Begründung für mehr Land für Jüd:innen und weniger für Palästinenser:innen. Es handelt sich um einen dynamischen Prozess, der mit dem sich verändernden Kontext interagiert, einschließlich der Handlungen des palästinensischen Widerstands. Es ist die Summe verschiedener "Zides", die das palästinensische Land unwohnbar machen: die Bewegungseinschränkung der Palästinenser:innen, palästinensische Führungspersönlichkeiten töten (Politi-zid), Grundwasser stehlen, das für die palästinensische Landwirtschaft so wichtig ist, und ihre potenzielle wirtschaftliche Lebensfähigkeit untergraben (Ökonomi-zid). Indem verschiedene Aspekte der israelischen militärisch-judiziellen-zivilen Apparate beschrieben und hinterfragt werden, wird das spaziozidale Projekt durch ein Regime möglich, das drei Prinzipien einsetzt: Kolonisierung (mehr Land konfiszieren), Trennung (zwischen israelischem Land und palästinensischem Land) und den Ausnahmezustand, der zwischen diesen beiden scheinbar widersprüchlichen Prinzipien vermittelt.
Seit 2005 hat die israelische Gewalt eine zunehmend grausame Wendung genommen, die alle internationalen, humanitären und Menschenrechtsgesetze herausfordert. Die Zahl der israelischen Opfer ist minimal geworden, während die Anzahl der getöteten Palästinenser:innen massiv angestiegen ist, was die Absicht des israelischen Kolonialprojekts, einen genozidalen Krieg zu starten, untermauert.
Nach Giorgio Agamben zeigt die ausführliche Beschreibung des Besatzungsregimes, dass die Aussetzung des Rechts und die Aufgabe des Lebens nicht vollständig übereinstimmen. Die Verweigerung der palästinensischen Staatsbürgerschaft und der Ersatz des Rechtsstaats durch ein Geflecht von Vorschriften, Verfahren und Dekreten haben die Bühne für eine aktive und gewalttätige Missachtung des palästinensischen Lebens durch das Regime bereitet. Um ein Beispiel für diese israelische Brutalität zu nennen, wurden laut UN-Statistiken von Januar 2008 bis Ende August 2023 6.407 Palästinenser:innen von den israelischen Besatzungstruppen und den von ihnen geschützten bewaffneten Siedler:innen getötet und 152.560 verletzt. Im Gegensatz dazu wurden insgesamt 308 Israelis getötet - ein Verhältnis von 21 zu 1.
Seit dem 7. Oktober 2023 wurden Berichten zufolge 1.200 Israelis, darunter 22 Kinder, getötet, im Vergleich zu fast 30.000 Palästinenser:innen, darunter mehr als 11.000 Kinder im Gazastreifen. Mehrere israelische Minister haben öffentlich für die Vertreibung aller Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen oder die Ermordung aller Bewohner:innen von Gaza plädiert. Ministerpräsident Netanyahu hat öffentlich zur ethnischen Säuberung aufgerufen. Die Bevölkerung hat dennoch Widerstand geleistet, während Israel seinen zweiten Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung führt. Es handelt sich um eine gezielt genozidale Kampagne, die Journalist:innen, Krankenschwestern, Ärzt:innen und UN-Mitarbeiter:innen massakriert.
Nach Internationalem Recht wird es wie folgt definiert: "Die Absicht, eine nationale, ethnische, rassifizierte oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise als solche zu zerstören." Dies ist die Definition der 1948 von der UN verabschiedeten Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords.
Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant hat am 9. Oktober des vergangenen Jahres die genozidale Absicht des Landes deutlich gemacht, als er erklärte: "Wir verhängen eine komplette Belagerung über Gaza. Kein Strom, kein Essen, kein Wasser, kein Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir werden entsprechend handeln." Es gibt viele weitere Erklärungen, darunter die des israelischen Präsidenten Isaac Herzog, der sagte: "Es gibt keine unschuldigen Zivilisten im Gazastreifen." Viele Wissenschaftler:innen und Praktizierende des Völkerrechts, der Konfliktstudien und der Genozidforschung haben eine öffentliche Erklärung veröffentlicht, in der sie vor einem Genozid in Gaza warnen. Dieses Ghetto steht seit 2007 unter israelischer Belagerung (mit der Duldung Ägyptens). Innerhalb des winzigen Landstreifens, der weniger als die Länge eines Marathons und nur fünf Meilen breit ist, gibt es keine Zufluchtsstätte. Neben den ständigen Bombardierungen und dem Einsatz chemischer Waffen hat das israelische Regime Nahrungsmittel, Treibstoff, Wasser und Strom abgeschnitten, was eine erschreckende humanitäre Krise provoziert hat.
Am 9. Oktober wurde das Konzentrationslager Gaza – seit 2007 unter israelischer Belagerung – offiziell zum Vernichtungslager erklärt. Der fortlaufende israelische Völkermord wurde möglich, durch das Schweigen und die Unterstützung vieler westlicher Länder die ethnische Säuberung des palästinensischen Volkes ermöglichten und aufgrund der Interpretation des palästinensischen Widerstandsprojekts.
Ein strategischer Fehler?
Angesichts der Abgründigkeit und Brutalität der Besatzung im Westjordanland und im Gazastreifen, warum sollte man erwarten, dass der Widerstand hübsch aussieht?
Der Politikwissenschaftler Norman Finkelstein erinnert uns daran, wie brutal die Sklavenaufstände in den USA waren und wie der afroamerikanische Soziologe WEB Du Bois und der Abolitionist Frederick Douglass deren Hässlichkeit nie kritisierten.
Der amerikanische Musiker und Aktivist David Rovics ist einer von vielen, der die Ereignisse vom 7. Oktober mit dem Warschauer Ghetto-Aufstand im Frühjahr 1943 verglichen hat. "Die jüdische Widerstandsorganisation zwang die deutsche Armee, Truppen von der Frontlinie des Krieges gegen die UdSSR abzuziehen, den sie verloren hatten, um sich mit dieser Gruppe halb verhungerter Zivilisten und ihrer selbstgemachten Waffen zu befassen", beschreibt er. Niemand hatte erwartet, dass eine Handvoll Jüd:innen die deutsche Armee besiegen würde.
Indem sie eine Offensive starteten, haben palästinensische Widerstandsgruppen - die weiterhin einen hohen Preis zahlen - klargestellt, dass sie lieber schnell im Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit sterben würden, als langsam in Demütigung auf Knien zu sterben. Diese Realität wurde schweigend durch die überwiegende Mehrheit der westlichen Medien, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen aufgenommen.
Stilles Einverständnis des Westens zum Genozid
Die Palästinenser:innen - nach Jahrzehnten des arabischen und internationalen Schweigens gegenüber dem fortlaufenden israelischen kolonialen Siedler - und Apartheidprojekt - haben mit einem wegweisenden Schritt reagiert. Die Überheblichkeit hat das israelische Regime und seine arabischen Verbündeten endlich eingeholt. Die israelischen Führer glaubten lange Zeit, unbesiegbar zu sein, und unterschätzten wiederholt ihre Feinde. Man kann grob von einer Spaltung innerhalb der internationalen Gemeinschaft sprechen: Der Globale Norden - stark von der israelischen Lobby dominiert - hat sich größtenteils auf die Seite der ethnischen Säuberung des palästinensischen Volkes durch das israelische Regime gestellt (mit möglicherweise Ausnahmen wie Spanien, Schottland und Irland), während der Globale Süden, einschließlich der Schwergewichte Russland, China und Iran, für einen dauerhaften Waffenstillstand und einen Friedensprozess sind.
Die pro-palästinensischen Demonstrationen waren trotz einiger Verbote in nahezu allen wichtigen Städten weltweit, einschließlich im Westen, riesig. Diese nahmen deutlich zu, nachdem das israelische Bombardement des al-Ahli-Arabischen Krankenhauses im Gazastreifen - gegründet im Jahr 1882 und geführt von der anglikanischen Kirche - fast 500 Palästinenser:innen getötet hatte. Dies löste eine globale Empörung über das Massaker an Menschen aus, die Schutz vor dem unerbittlichen israelischen Bombardement der belagerten Enklave suchten. Trotz unabhängiger Überprüfungen, einschließlich aktueller Artikel der Washington Post und der französischen Zeitung Liberation, wiederholten einige westliche Medien und Politiker:innen die israelische Lüge, dass die Explosion nicht von ihnen verursacht wurde.
Einige westliche Länder – insbesondere Deutschland und Frankreich – unterstützen nicht nur das israelische Kolonialprojekt. Sie verbieten auch jegliche Demonstrationen gegen den Genozid, während sie palästinensische Flaggen und Kufiyas verbieten. Sie geben vor, dass es antisemitisch sei, Israel an internationale humanitäre Standards zu halten.
In den folgenden Abschnitten werde ich drei Faktoren vorbringen, die die westliche pro-genozidale israelische Position erklären können: die Erinnerung an den Holocaust, das falsche Bild von Israel als säkularer Staat und das Bild von Hamas als fanatische Organisation anstelle einer Befreiungsorganisation.
Das Holocaust-Gedenken
Wenn es um Deutschland geht, liefert Esra Özyürek die beste Erklärung. Sie weist darauf hin, dass deutsche Politiker:innen, Journalist:innen und Akademiker:innen die Schuld des Holocausts an neue Minderheiten von Einwander:innen, insbesondere arabische Muslim:innen, „subcontracten“. Das „generelle deutsche soziale Problem des Antisemitismus“ wird auf diese Minderheit projiziert, die dann weiter stigmatisiert werden als "die am wenigsten reuigen Antisemiten", die zusätzliche Bildung und Disziplin benötigen.
Pankaj Mishra bezieht sich auf Andrew Ports "Never Again: Germans and Genocide after the Holocaust", um die weit verbreitete Gleichgültigkeit in Deutschland gegenüber dem Schicksal der Palästinenser:innen im Gazastreifen besser zu verstehen. Port untersucht die deutsche Reaktion auf Massenmorde in Kambodscha, Ruanda und auf dem Balkan und deutet an, dass der Holocaust "die Deutschen unwissentlich abgestumpft haben könnte. Die Überzeugung, dass sie den rasenden Rassismus ihrer Vorfahr:innen weit hinter sich gelassen hatten, könnte paradoxerweise die ungehemmte Äußerung verschiedener Formen des Rassismus ermöglicht haben." In Deutschland wurden einige Preisverleihungen abgesagt, wie zum Beispiel für die palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli und die russisch-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin Masha Gessen. Gessen wurde der renommierte Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken verliehen; die Preisverleihung wurde jedoch abgesagt, weil die Autorin in einem Essay vom 9. Dezember Gaza vor dem 7. Oktober mit den jüdischen Ghettos im von den Nazis besetzten Europa verglichen hatte. Samantha Hill argumentierte zurecht, dass Arendt, die von der Gründung an kritisch gegenüber dem Nationalstaat Israel war, heute in Deutschland nicht für den Hannah-Arendt-Preis in Frage käme.
Deutsche Politiker:innen akzeptieren, dass das Existenzrecht Israels gleichbedeutend ist mit Israels Recht, das palästinensische Volk zu vernichten (entweder in Massen, wie im Gazastreifen, oder langsam, wie im Westjordanland). Gaza bleibt ein besetztes Gebiet gemäß der Vierten Genfer Konvention, was Israel eine primäre Verantwortung für den Schutz der besetzten Zivilbevölkerung gibt. Diese Rahmung macht Israels Diskurs über den 'Krieg' und das 'Recht auf Selbstverteidigung' unanwendbar.
Das betrifft nicht nur Politiker:innen, die sich um Interessengruppen kümmern, die für ihre Finanzierung und Wiederwahl notwendig sind, sondern auch viele Wissenschaftler:innen. Heutzutage können wir in der Zeitung Haaretz mehr Kritik am israelischen Genozid im Gazastreifen lesen als in den wichtigsten amerikanischen, kanadischen oder europäischen Zeitungen. Selbst die Israelische Soziologische Vereinigung ist kritischer gegenüber den israelischen Verstößen gegen Internationales Recht als andere europäische akademische Vereinigungen. In einer verdrehten Wendung erinnern wir uns daran, wie Robert Badinter 1981 zu Recht die Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich durchgesetzt hat, während seine Frau - Élisabeth Badinter, eine sogenannte Philosophin und Feministin - heute ihre Unterstützung für eine kollektive Todesstrafe gegen die Bevölkerung im Gazastreifen äußert.
Unnötig zu erwähnen, dass es im Westen einige integere Wissenschaftler:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen gibt, wie Craig Mokhiber, Direktor des New Yorker Büros des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Er trat am 31. Oktober mit einem scharfen Rücktrittsschreiben zurück, in dem er die UN und die westliche Komplizenschaft bei den israelischen Missbräuchen scharf kritisierte. Wir beobachten auch, wie - trotz institutioneller Unterstützung der Universitäten für das zionistische Regime - Universitätsstudent:innen starke Unterstützung für den Kampf des palästinensischen Volkes zeigen. Und in den letzten Wochen haben wir Tausende westlicher Wissenschaftler:innen und Schriftsteller:innen gesehen, die den Krieg im Gazastreifen verurteilen und ein Ende der Besatzung fordern, trotz der Hexenjagd, die seit dem 7. Oktober vom israelischen Lobbyismus und seinen Verbündeten betrieben wird. In sogenannten Demokratien wie dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Kanada und Deutschland kann ein Forscher, der sich auf Facebook oder X gegen Genozid ausspricht, als Apologet für Terrorismus angesehen werden.
Heutzutage verlassen sich westliche politische Autoritäten auf sogenannte moderate arabische Führer, um die Palästinenser:innen zu beruhigen, während dieses alltägliche koloniale Siedlerprojekt zu einem industriellen Völkermord wird. 'Sie verließen sich auf das Saudi-israelische Normalisierungsabkommen, das die Palästinenser:innen in inakzeptable Bedingungen gezwungen hätte. Nur eine Woche vor dem 7. Oktober sagte der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, arrogant: "Die Region des Nahen Ostens ist heute ruhiger als in den letzten zwei Jahrzehnten." Die amerikanischen Herrscher sind zufrieden, wenn Palästinenser:innen im Stillen sterben und leiden, fernab der Kameras. Daher war eine der harten Lektionen vom 7. Oktober das Gefühl einer Scheinstabilität im Nahen Osten, das Scheitern der Vorstellungskraft und wie das Fehlen einer Lösung für die palästinensische Sache die Region an den Rand eines Abgrunds bringen könnte.
Israel als säkularer Staat
Für viele im Westen ist Israel ein säkularer Staat, der keinen Fehler machen kann. Wenn wir jedoch nur einen Indikator betrachten - die Ausweitung illegaler Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten -, wird schnell klar, dass die israelischen Führer, sowohl Säkularisten als auch religiöse Fanatiker, sowohl Linke als auch Rechte, sich an diesem Landraub beteiligt haben. Ich erinnere mich an einen öffentlichen Vortrag von Alain Touraine an der School for Advanced Studies in the Social Sciences (EHESS) in Paris im Jahr 1993, wo er das "Wunder" Israels hervorhob, innerhalb eines Jahres 150.000 russische Jüd:innen aufgenommen zu haben. Als ich dieses "Wunder" mit der Tatsache konfrontierte, dass all diese Europäer illegal im besetzten Palästina angesiedelt waren, antwortete er: "Diese Migranten werden die Situation verändern: Aufgewachsen in der Sowjetunion sind sie säkular, daher werden sie den Friedensprozess unterstützen."
Unter Beweisstellung einer verdrehten Naivität realisierte er nicht, dass diese illegalen Siedler:innen einige der faschistischsten politischen Parteien im israelischen Regime gründen würden- wie Yisrael Beiteinu (Israel Unser Zuhause) — und haben sich mit der religiösen Siedlerbewegung im Westjordanland verbündet. Die Betrachtung des arabisch-israelischen Konflikts wird weiterhin von einem islamophoben Säkularismus dominiert, der besessen von Hamas ist. Indem man Hamas als ISIS betrachtet, wird sie zum Ziel, das beseitigt werden soll, während die palästinensischen Gazaner homo sacer sind, die, ohne dass ihre Mörder zur Rechenschaft gezogen werden, ermordet werden können.
Hamas' Repräsentativität
Einige bestreiten, dass Hamas einen wichtigen Teil der palästinensischen Bevölkerung repräsentiert. Tatsächlich genießt Hamas großen Rückhalt bei einigen palästinensischen Menschen, sowohl innerhalb des besetzten Palästinas als auch in der Diaspora. Hamas wurde vom palästinensischen Volk im Jahr 2006 gewählt, und sie waren klar in ihrer Ideologie gegenüber denen, die sie gewählt haben. Ich sah sogar einige christliche Freunde ihre Stimmen für sie abgeben. In den letzten fünf Jahren gewinnen sie immer noch die Wahlen der Studentenschaften an palästinensischen Universitäten im Westjordanland. Ihre Popularität resultiert daraus, dass es keine politische Lösung für das genozidale israelische Regime gibt, während die Notwendigkeit besteht, den fortlaufenden israelischen Siedlerkolonialismus mit Kosten zu belasten. Dies lässt die Palästinenser:innen mit Hamas als einziger Gruppe zurück, die tatsächlich auf irgendeine Weise für ihre Interessen arbeitet. Diejenigen, die die Handlungen von Hamas bestreiten, sollten uns sagen, warum die "gemäßigte" Palästinensische Autonomiebehörde nicht in der Lage war, Israel dazu zu zwingen, das Westjordanland aufzugeben und die Besatzung zu beenden. Diese Autorität hatte keine Trümpfe in der Hand, nachdem ihre Führer von ihrer bedingungslosen Absage der Gewalt gegen Israel abhängig geworden waren, im Austausch für ihren Lebensunterhalt und Hilfe von westlichen und arabischen Ländern.
Unter dem Vorwand einer Schlussfolgerung: Gewalt und Dialog
Ich sehe kein koloniales Siedlerprojekt, das jemals allein durch friedliche Verhandlungen oder bevor ein gewisses Machtgleichgewicht hergestellt wurde, abgebaut wurde... oft auf Kosten vieler Leben. Der edle Unabhängigkeitskampf Algeriens hat 1,5 Millionen Menschenleben gefordert. Die Palästinenser:innen haben seit mindestens 30 Jahren, seit dem Oslo-Prozess, den gewaltlosen Ansatz nach Gandhis Vorbild praktiziert, jedoch ohne Ergebnisse.
Die Geschichte kann daher nicht als voneinander isolierte Ereignisse betrachtet werden, sondern als Bewegung und Kontingenz. Staaten und Gesellschaften respektieren starke Akteure, ob zum Guten oder Schlechten. Die emotionale und psychologische Dimension des 7. Oktobers ist sehr wichtig für diejenigen, die Gerechtigkeit verteidigt haben, während sie so viele grausame Verstöße gegen humanitäre und Menschenrechtsnormen durch Israel erlebt haben. Es ist ein Wendepunkt im gegenwärtigen Status quo der palästinensischen Frage, aber wir wissen immer noch nicht, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden.
Da der palästinensische Widerstand nun so wichtig wird (im Vergleich zur schwachen PNA in Ramallah), hoffe ich immer noch, dass dieser Krieg Israel und die internationale Gemeinschaft dazu zwingen könnte, eine faire politische Lösung voranzutreiben (es gab unzählige westliche Erklärungen über die Notwendigkeit einer Zwei-Staaten-Lösung auf der Basis der Grenzen von 1967, die bereits von Hamas im Jahr 2017 akzeptiert wurde) oder zumindest einen Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern zu führen. Das entspricht meinem letzten Anruf zu einem dialogischen liberalen Projekt, einem Aufruf gegen Intoleranz in Debatten über soziale und politische Themen.
Allerdings befürchte ich, dass auch ein anderes Szenario möglich ist: eine weitere Nakba, Massentötungen und Vertreibungen der Palästinenser:innen und die Beschleunigung faschistischer Tendenzen ähnlich wie in Sarajevo 1914 oder der Kristallnacht 1938. Ich fürchte das, was als das wahrscheinlichere Ergebnis in Gaza erscheint.
Über den Autor:
Sari Hanafi ist Professor für Soziologie, Direktor des Zentrums für Arabistik und Nahoststudien und Leiter des Programms für Islamische Studien an der Amerikanischen Universität Beirut. Er war Präsident der International Sociological Association (2018-23). Zu seinen aktuellen Büchern zählt er als Mitherausgeber "The Power of Inclusive Exclusion: Anatomy of Israeli Rule in The Occupied Palestinian Territories".