Stellungnahme zu den Anfeindungen gegen palästinensische und palästinasolidarische Antirassist*innen

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In den letzten Wochen und Monaten haben in ganz Deutschland Palästinenser*innen und Palästinasolidarisch*innen immer wieder das Bündnis mit anderen Gruppen gesucht, um gemeinsam gegen Rassismus zu protestieren. Sie tun dies aufgrund ihrer tiefen Überzeugung, in anderen antirassistischen und revolutionären Gruppen stetige Verbündete im Kampf gegen Kolonialismus, Imperialismus, Unterdrückung und Entmündigung zu haben.

Allein am Wochenende rund um den Tag der Deutschen Einheit am 03.10.2020 fanden beispielsweise in Köln und Frankfurt am Main Demonstrationen unter Beteiligung von palästinensischen Gruppen gegen die anhaltende Gewalt gegen Geflüchtete in Moria und allen anderen Lagern, gegen Polizeigewalt und staatliche Willkür in Deutschland und gegen white supremacy auf der ganzen Welt statt.

So konnte die Gruppe „Palästina Spricht NRW“ in Köln auf einer von Migrantifa Köln und zahlreichen anderen antirassistischen und revolutionären Gruppen organisierten Kundgebung deutlich zum Ausdruck bringen, dass Antirassismus ohne Palästinasolidarität kein echter Antirassismus ist und erhielt dafür Solidarität und Unterstützung von Migrantifa NRW und anderen Gruppen.

Doch dieser Erfolg wird überschattet von zahlreichen anderen Ereignissen, bei denen palästinensische und palästinasolidarische Antirassist*innen auf und nach Demonstrationen in den letzten Monaten bedrängt, belästigt, eingeschüchtert, verunglimpft und vor allem rassistisch diskriminiert wurden.

So wurden beispielsweise bei einer Black Lives Matter-Demonstration im Juni 2020 in Oldenburg palästinensische und syrische Geflüchtete, eine solidarische Demonstrantin sowie ein deutscher BDS-Aktivist von anderen, mehrheitlich als eindeutig „weiß“ erkennbaren Demonstrant*innen geschubst, verhöhnt, verunglimpft und aktiv daran gehindert, ihre Perspektive einzubringen. Der Höhepunkt der Aggressionen gegen die palästinensischen und palästinasolidarischen Aktivist*innen stellten dabei unbegründete Platzverweise dar, die von Ordner*innen und Organisator*innen der Demonstration trotz der spontanen Solidarisierung einiger anderer Demonstrant*innen ausgesprochen wurden. Die Veranstalter*innnen - unter anderem lokale Ableger der Linken, Grünen, der Seebrücke, dem Asta, des feministischen Referats etc.- wurden im Nachgang mit dem rassistischen Übergriff konfrontiert und um eine Distanzierung gebeten. Bezeichnend ist jedoch, dass seitens der Veranstalter*innen mit Ausnahme der Antirassismusstelle darauf trotz Belegen nicht einmal geantwortet wurde. Die Oldenburger Seebrücke-Gruppe ging zuletzt sogar noch einen Schritt weiter: in einem Akt der Täter-Opfer-Umkehr verfassten sie nach "Monaten der intensiven Arbeit" ein schlecht recherchiertes Pamphlet, das ernsthaft behauptet, die Aggressionen und Beleidigungen seien von den palästinensischen und palästinasolidarischen Aktivist*innen ausgegangen.

Ähnliche Schilderungen gibt es auch von einer Frankfurter Black Lives Matter Demonstration im Sommer 2020, während der ein palästinensischer Aktivist auf koloniale Kontinuitäten und die Parallelität und Verwobenheit des Vorgehens der US-amerikanischen Polizei gegen schwarze Demonstrant*innen und des israelischen Militärs gegen Palästinenser*innen hinwies und daraufhin massiv bedroht wurde.

Auch gegen die Gruppe „Palästina Spricht NRW“ wurde während und nach einer Kundgebung in Gedenken an die Mordopfer von Hanau im August 2020 in Münster von einer vorgeblich „linken“ Gruppe agitiert und ihr unterstellt, sie nutze ihre Rede, während der die palästinensischen Aktivist*innen alle Namen der Mordopfer verlasen und sich eindeutig gegen Rassismus in Deutschland positionierten sowie koloniale Kontinuitäten und Rassismus auf der ganzen Welt thematisierten, um Antisemitismus zu verbreiten.

Auch in anderen politischen Kontexten wurde und wird immer wieder auf den Ausschluss und das silencing von palästinensischen und palästinasolidarischen Aktivist*innen hingewirkt. Im Gedächtnis blieb unter anderem die (letztlich erfolglose) Initiative der Organisator*innen des Radical Queer March in Berlin 2019 gegen Palästinenser*innen, die sich gemeinsam mit anderen Aktivist*innen für die Rechte von LGBTQ* engagieren wollten und denen ihre Teilnahme am Marsch verweigert werden sollte. In Freiburg wird derzeit noch immer in Zeitungsartikeln der Badischen Zeitung und durch lokale, sich liberal gebende Personen und Gruppen Mitglieder eine von der Gruppe "Palästina spricht Freiburg" abgehaltene Mahnwache in Gedenken an zivile Kriegsopfer in Gaza mit einer Gefahr für den öffentlichen Frieden in Form einer Rahmengebung für die Verbreitung von Antisemitismus gleichgesetzt.

Auch die jüngste Kampagne einiger vorgeblich „linken“ und „antirassistischen“ Gruppen gegen palästinensische und palästinasolidarische Menschen in Frankfurt im Anschluss an die Demonstration am 03.10.2020 bedient anti-palästinensische Argumentationen:

Nachdem Migrantifa Hessen und Black Power Frankfurt die palästinensischen Gruppen Free Palestine FFM und Stop Child Detention - neben zahlreichen anderen Gruppen - eingeladen und gebeten hatten, Reden zu halten, folgte im Anschluss an die Demonstration eine, offensichtlich von antideutschen Gruppen orchestrierte, Diffamierungskampagne sowohl gegen Migrantifa Hessen und Black Power Frankfurt als auch Free Palestine FFM und Stop Child Detention. Die von weißen Personen dominierten Organisationen Seebrücke Frankfurt und Fridays for Future warfen im Zuge dieser Kampagne den genannten Gruppen Antisemitismus vor und distanzierten sich öffentlich von ihnen. Besonders zynisch dabei ist, dass in der von einer Frau mit arabischem Background gehaltenen Rede von Free Palestine FFM bereits auf eben solches unsolidarisches Verhalten hingewiesen wurde. Wo mahnte sie in der Rede an, dass palästinensischen, linken jüdischen, BIPoC und weiteren palästinasoldarische Menschen in offenbar anti-antiimperialistischen "linken" Szene in Deutschland das Sprechen über ihre Erfahrungen und ihre Solidarität mit Palästina verboten wird. Auch die Rede der geflüchteten palästinensischen Rednerin von Stop Child Detention, in der sie über die Lage palästinensischer Kinder berichtete und sich vehement gegen jede Form sowohl des anti-palästinensischen Rassismus als auch des Antisemitismus äußerte,  wurde ebenfalls im Zuge der Diffamierungskampagne als antisemitisch diffamiert.

Wir - das heißt die Koalition "Palästina Spricht", welche als Bewegung in Deutschland und als Sprachrohr für die über 250.000 Palästinenser*innen in Deutschland gegründet wurde - stehen trotz dieser Diffamierungen selbstverständlich solidarisch an der Seite aller palästinensischen und palästinasolidarischen Antirassist*innen und Aktivist*innen.

Denn das verbindende Element bei all diesen Versuchen, Palästinenserinnen und palästinasolidarischen Aktivist*innen ihre Stimmen zu verbieten, ist immer der gleiche Vorwurf : Palästinenser*innen und Palästinasolidarische „unterwandern“ und instrumentalisieren angeblich den „anti-rassistischen“ Protest. Dass mehrheitlich weiße Gruppen Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen vorwerfen, zum Beispiel eine Demonstration gegen abscheuliche Zustände im Mittelmeer und gegen Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus (wie die Demontration vom 03.10. in Fraknfurt) zu "instrumentalisieren" ist perfide. Es zeigt sich so vor allem, dass ein weißer "Antirassismus" zutiefst paternalistische Mechanismen (re-)produziert und vielmehr eine Ausprägung von white saviourism - und somit eine Hochhaltung der Idee einer moralischen Überlegenheit weißer Personen und Organisationen - darstellt.

Tatsächlich werden die momentan in ganz Deutschland stattfindenden Proteste gegen Rassismus sogar von vornehmlich weißen, rassistischen und anti-palästinensischen Gruppen benutzt, um ihre palästinafeindliche Ideologie durchzusetzen. Diese Gruppen werden angetrieben von dem unbedingten Willen, Palästinenser*innen zu diskreditieren. Dafür nutzen diese Gruppen das Feigenblatt des Antirassismus, um gleichzeitig in zynischer Art und Weise palästinensische und palästinasolidarische BIPoC, die von Kriminalisierung, Grenzregime und staatlicher Willkür sowohl in Deutschland als auch in allen von Israel kontrollierten Gebieten einschließlich dem israelischen Staatsgebiet und darüber hinaus in zahlreichen anderen Staaten betroffen sind, zu verleumden und eben jenem Rassismus auszusetzen, gegen den sie vorgeblich demonstrieren. Aus der Perspektiven dieser Gruppen heraus haben Palästinenser*innen ihr Recht auf Solidarität einzig und allein deshalb verloren, weil sie Palästinenser*innen sind und, so diktiert es ihr rassistischer Blick auf Palästinenser*innen, Araber*innen und Muslim*innen, qua natur ihres Seins gefährlich, antisemitisch, islamistisch und terroristisch seien.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in Deutschland, trotz des Urteils zu BDS des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und trotz der international immer stärker werdenden propalästinensischen Solidarität, weiterhin Palästinasolidarität, der Hinweis auf Apartheid in Israel und Fürsprache für die Arbeit von BDS pauschal mit Antisemitismus assoziiert werden. Schließlich speist sich der neue deutsche Nationalstolz über das eigene Aufgeklärtsein, Reflektiertsein und Geläutertsein nach 1945 vor allem aus der Tatsache, strukturellen Rassismus und Antisemitismus in Deutschland zu verharmlosen und mit dem Finger auf angebliche gefährliche Gruppen wie die Palästinenser*innen zu zeigen.

In den Reaktionen auf die Anwesenheit und das Sprechen von Palästinenserinnen und Palästinasolidarischen auf Demonstrationen offenbart sich deshalb gegenwärtig, welche politischen Strömungen und Gruppen tatsächlich antirassistische Arbeit leisten und welche ihren Antirassismus nur vorgeben, um weiße Vorherrschaft und Deutschtümelei zu forcieren. So liegt in der Anwesenheit und dem Sprechen von Palästinenser*innen und Palästinasolidarischen auf linken Demonstrationen auch die große Chance, endlich mit unsolidarischen, rassistischen und regressiven Gruppen zu brechen, um in Zukunft einen unbedingt solidarischen und gemeinsamen Kampf gegen Rassismus auf der ganzen Welt zu führen! Antirassismus kennt keine Ausnahmen, und jeder antirassistische Kampf ohne die Solidarität mit den Palästinenser*innen ist ein bereits verlorener, weil heuchlerischer Kampf!

Deshalb werden wir, als Bündnis "Palästina Spricht", uns auch in Zukunft nicht von weißen, „anti-deutschen“ Gruppen oder anti-palästinensischen Bürokrat*innen und Akademiker*innen den Mund verbieten lassen. Weißen Gruppen ist Antirassismus nur dann genehm, wenn ihre eigene Macht erhalten bleibt. Wir aber bleiben stark, unbequem und bedingungslos solidarisch mit allen Palästinenser*innen und Palästinasolidarischen, die Repression und Gewalt aufgrund ihres antirassistischen Kampfes erfahren! WE WILL NEVER BE SILENT!

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Solidarität für die Initiative “Unlearning Zionism” von jüdischen Israelis in Berlin

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